Lebenshilfe nicht ausgeschlosssen

General-Anzeiger vom 03.01.2006

 

Kultur. Der Thomasberger Friedemann Spicker hat sich der Kunst des Aphorismus verschrieben. Geld lässt sich mit Büchern über die Sinnsprüche nicht verdienen. Gegen Kalenderweisheiten nichts einzuwenden.

Von Hansjürgen Melzer

Thomasberg „Den kleinen Dingern wird viel Unrecht getan.“ Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Thomasberger Friedemann Spicker mit einer literarischen Gattung, die schon immer von Missverständnissen begleitet wurden – dem Aphorismus. „Geflügelte Worte“ schreibt der Brockhaus über die Stilform, für die gemeinhin der Leitsatz gilt: „In der Kürze liegt die Würze“. Ein philosophischer Gedankensplitter, ein rhetorisch reizvoller Sinnspruch ist der Aphorismus, der auch schon mal als Sentenz, Aperçu oder Bonmot daher kommt. Gegen eine zu enge Definition wehrt sich Spicker jedoch. Für ihn ist vor allem wichtig, dass der Aphorismus als solcher gewollt und selbstständig verstehbar ist.
Bereits in der Abiturzeitung, an der er kräftig mitwirkte, schrieben seine Mitschüler über ihn: „Die Fliege, die nicht geklappt sein will, setz sich am besten auf die Klappe selbst“. Die Weisheit stammt von Georg Christoph Lichtenberg, den Spicker für den größten Aphoristiker aller Zeiten hält. Seit der Schulzeit haben die Sprüche den heute 59-Jährigen nie mehr richtig losgelassen. „Die gedankliche Tiefe in der Prägnanz ist für mich faszinierend. Mit den besseren werde ich nie fertig. Sie begleiten mich dauerhaft“, sagt er. Da der studierte Germanist jedoch nicht die Hochschul-, sondern die Schullaufbahn einschlug, ging die Beschäftigung bis Anfang der 1990-er Jahre nicht über ein intensiv gepflegte Hobby hinaus.
Erst ein Aufsatz über den Aphorismus, den er im Rahmen eines Lehrauftrags an der Kölner Universität schrieb und der in einer renommierten Zeitschrift abgedruckt wurde, machte ihm den Mut, den er brauchte, um aus seiner Freizeitbeschäftigung mehr zu machen. Als ihm seine Frau Angelika Spicker-Wendt im Jahre 1995 dann auch noch anbot, dass er sich für einige Jahre beurlauben lassen könnte, sie würde solange für den Familienunterhalt aufkommen, verschrieb sich Spicker voll und ganz der „kleinen Form“, wie er sie nennt. 2001 – nach dem Umzug nach Thomasberg – nahm er zwar wieder eine halbe Stelle am Siegburger Abendgymnasium an, dem Aphorismus gehört jedoch weiter der Tag. Und sei Herz ohnehin.
1997 gab er sein erstes Buch „Der Aphorismus“ heraus. Darin steckten sechs Jahre intensiver Arbeit. „Ich wollte den Aphorismus in seiner ganzen Breite darstellen und habe mich mit den trivialsten Erscheinungen beschäftigt. Das reicht von Elias Canetti und Peter Handke bis zu Marketingsprüchen“, sagt Spicker. Vor einem Jahr folgte „Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert“, 1000 Seiten zum Preis von 159,90 Euro. Wer aber glaubt, mit Aphorismen oder ihrer Erforschung könnte man Geld verdiene, irrt. Spicker musste lange nach einem Verlag suchen, der das Buch in einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlichte. Selbst das handliche Bändchen „Aphorismen der Weltliteratur“, das der Reclam-Verlag vor einigen Jahren herausgab, brachte Spicker nichts ein. Im Gegenteil. Als er einen ähnlichen Band über deutsche Aphorismen herausbringen wollte, winkte der Verlag ab. „Man sagte mir, der Markt sei durch das erste Buch verstopft“, erzählt der Wissenschaftler. Ein anderer Verleger schickte ihm eine Kostenkalkulation. „Wenn ich bereit wäre, 5000 Euro zu zahlen, hätte er es veröffentlicht.“
Die Beschäftigung mit Aphorismen ist eine brotlose Kunst, deshalb hat Friedemann Spicker mit seiner Frau im September eine Stiftung mit Sitz in Königswinter gegründet. Vor einem Jahr kam es in Hattingen außerdem zum ersten bundesweiten Aphoristikertreffen, aus dem ein Förderverein für die Einrichtung eines Archivs hervorging. Diese Zusammenkunft war für Spicker die eigentliche Sensation. „Ich war überrascht, dass es noch so einen Verrückten gibt, der sich in diesem Gebiet tummelt“, sagt er über den Initiator Jürgen Wilbert. Von Wilbert stammt der Aphorismus: „Auf Allgemeinplätzen herrscht das größte Gedränge“. Während große Teile Deutschlands den Superstar suchen, blüht hier eine zarte Pflanze, die sich erstmals etwas selbstbewusster ans Licht wagt. Wissenschaft und eigene Kreativität lassen sich dabei nicht voneinander trennen. Friedemann Spicker führt sein Reflexionstagebuch, seit er 16 Jahre alt ist. Dabei sind Aphorismen für ihn auch immer wieder Ausdruck tiefer Lebensweisheit. „In der Erkenntnis des Unglücks schwingt das Glück der Erkenntnis“, lautet einer seiner Lieblings-Aphorismus, der von dem nahezu unbekannten Hans Kudszus stammt. Ein anderer – „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber ich weiß, dass es anders werden muss, wenn es gut werden soll“ – findet sich im Internet bereits als Tipp für einen geistreichen SMS-Spruch. Gegen Aphorismen als Lebenshilfe hat Spicker dabei überhaupt nichts einzuwenden. Seinetwegen auch als Kalenderspruch, wenn er nicht allzu platt ist. „Was mich fasziniert, ist die Verbindung von Utopie und Skepsis“, sagt Spicker. Er möchte demnächst auch die junge Generation in Workshops für die alte Kunst begeistern. An Talenten fehle es den Schülern schließlich nicht. „Lieber ´ne Sechs als überhaupt keine persönliche Note“, heißt so eine als Buch erschienene Sammlung der originellsten Pennäler-Sprüche. Ein geradezu klassischer Aphorismus. Vielleicht lässt sich ja einer von Spickers Begeisterung anstecken – ganz im Sinne eines seiner Aphorismus: „Können Sie denn davon leben?“ – „Nein, aber dafür.“

 

Stiftung und Förderverein

Zweck der „Angelika + Friedemann Spicker-Stiftung“ mit einem Stiftungskapital von zunächst 50000 Euro ist der Förderung des Aphorismus und verwandter literarischer Kleinformen durch Forschung, Archivierung und öffentliche Veranstaltungen. Die Stiftung ist als juristische Person Mitglied des Fördervereins für das Deutsche Aphorismus-Archiv in Hattingen. Dort fand im November 2004 auch das erste deutsche Aphoristikertreffen statt. Die Aphoristiker wurden inzwischen ins „Land der Ideen“ aufgenommen, eine Initiative unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler, mit der sich Deutschland im Jahr der Fußball-WM als Land der Dichter und Denker präsentieren will. Aus 1200 Bewerbern wurden 365 Orte ausgewählt, die ihre Projekte der Öffentlichkeit präsentieren können. Am 3. November 2006 wird dies Hattingen als Ort des 2. bundesweiten Aphoristikertreffens sein. Dann soll dort auch das Aphorismus-Archiv eröffnet werden. mel